Maria oder 100 Gründe, um zu essen – Esssucht

Für Maria gibt es nur eines: essen. Wenn sie an ihre Familiengeschichte zurückdenkt, fällt ihr ein, dass sie bei jeder Gelegenheit mit Essen verwöhnt, belohnt und getröstet wurde.

Diese Gewohnheit hat sie beibehalten. Wenn es ihr schlecht geht, wenn sie Frust hat oder ganz einfach wenn sie sich langweilt, greift sie zur Nahrung. Komisch! Satt ist sie nie, aber den richtigen Hunger kennt sie auch nicht.

Maria ist in ihrem Umfeld sehr beliebt. Sie wird von allen geschätzt, sie kann gut zuhören und sie nimmt sich für andere sehr viel Zeit, so ist sie eben, eine opferfreudige junge Frau. Sie hat sich in ihrer Rolle so festgefahren, dass sie kaum noch den Mut hat, Gas zu geben, um die anderen zu überholen. Irgendwie fährt sie wie ein Lastwagen immer auf der langsamen Spur. Nur beim Essen nicht, da lädt sie voll auf - und das hat Folgen.

Wenn sie von der Schule kommt, geht der Weg direkt in die Küche zum Kühlschrank. Dort muss sie gleich etwas runterschlingen. Ganz egal ob Wurst, Käse, Süßes oder saure Gurken aus dem Glas. Erst danach zieht sie die Jacke und die Schuhe aus. Weil jeder in der Familie gestresst ist, sitzt sie meistens alleine am Tisch und leert in Windeseile alles, was in den Töpfen übriggeblieben ist, auch wenn es für drei reichen könnte. Danach geht es ihr immer öfter schlecht, sie plagt sich mit Vorwürfen und Schuldgefühlen. Warum kennt sie keine Grenzen? Sie weiß doch, was das für Folgen hat und doch fällt es ihr so schwer, sich zu beherrschen. Sie kann es nicht begreifen und es macht ihr Angst.
Nach so vielen Diäten hat sie es aufgegeben. Wozu auch? Mit sich selbst streng sein, monatelang verzichten, um am Ende vielleicht für zwei Wochen das Idealgewicht zu halten? Sie möchte auch ihre Figur nicht mehr unter der Kleidung verstecken. Es ist sinnlos, funktioniert sowieso nicht und blamieren möchte sie sich sicher nicht. Wer sie mag, soll sie so nehmen, wie sie ist. Doch wohin mit ihr, sie hat schon beim Treppensteigen Herzrasen und Atemnot. Eine „gepanzerte“ Frau macht selbst dem stärksten Mann Angst. Vom heutigen Schönheitsideal ganz abgesehen.

Die Themen Beziehung und Sexualität sind momentan auf Eis gelegt. So sehr sie sich nach Zärtlichkeit und menschlicher Nähe sehnt, so richtig konnte sie das Ganze nie vereinbaren. Die Erfahrungen, die sie gemacht hat, waren nicht gerade rosig. Aber das möchte sie am liebsten vergessen, warum sollte sie in der Vergangenheit stöbern, wenn es schon so lange her ist?

Irgendwie merkt Maria, dass sie etwas für sich tun muss. Es dauert eine Weile bis sie den ersten Schritt zum Arzt wagt. Dort findet sie einen Hinweis auf eine Infostelle für Ess-Störungen. Warum nicht? Sie möchte schließlich etwas für sich tun! Im Beratungsgespräch wird ihr deutlich, dass sie esssüchtig ist und dass eine rasche und problemlose Lösung sicherlich nicht möglich ist.
Sie ist trotzdem erleichtert, denn sie hat sich verstanden gefühlt und ihr sind einige Lichter aufgegangen. Könnte es sein, dass bei ihr das Essen eine Ersatzfunktion hat? Wie kann sie es schaffen, einen neuen Bezug zum Essen zu finden? Möchte sie überhaupt Veränderungen Schritt für Schritt riskieren?
Maria ist durcheinander und voller Zweifel. In der Selbsthilfegruppe findet sie andere, denen es ähnlich geht und der Austausch tut ihr gut. Sie steht vor einer großen Entscheidung: den vertrauten Weg weiter zu gehen oder etwas Neues und Unbekanntes ausprobieren. In der Beratungseinrichtung kann sie zudem die neuesten Informationen zur Behandlung von Übergewicht bekommen. Außerdem findet sie dort Hinweise, welche Sportmöglichkeiten es für sie gibt. Ihr ist bewusst geworden, dass sie ihren Lebensstil ändern muss. Dafür wird sie sich Zeit nehmen, denn Bewegung, Psyche und Ernährung zu ändern ist spannend, wenn auch anstrengend.

Wann bin ich esssüchtig?

Esssüchtige Menschen schlucken ihre Gefühle runter, häufig aus Wut, Ärger oder Traurigkeit. Wahrscheinlich merkst du selbst, wann Essen für dich zum Problem wird. Es gibt Merkmale, die ganz typisch für eine Binge-Eating-Störung (Binge bedeutet in etwa „Schlingen“) sind.
Check-up:
• Hast du bereits seit einem halben Jahr oder länger mindestens zwei Heißhungeranfälle pro Woche?
• Hast du das Gefühl dich dabei nicht kontrollieren zu können und übermäßig schnell zu essen (schlingen)?
• Merkst du eigentlich, wann du genug hast oder isst du weiter bis einfach nichts mehr Platz hat?
• Überkommt dich der Heißhunger auch dann, wenn du gar kein körperliches Hungergefühl hast?
• Isst du heimlich, weil du dich schämst, wenn dir jemand beim Essen zusieht?
• Wie fühlst du dich nachher? Einfach „überfressen“ aber glücklich? Oder plagen dich Schuldgefühle und Ekel?

Was sind die Folgen?

Körperliche Folgen der Esssucht können sein:
• Überbelastung des Herzens und des Kreislaufs (Bluthochdruck), was zu Schlaganfall, Herzinfarkt oder Diabetes führen kann.
• Gelenks- und/oder Rückenbeschwerden, verminderte körperliche Leistungsfähigkeit und Atemnot aufgrund mechanischer Überlastung.

Psychische und soziale Folgen:
Übergewichtige werden häufig ausgelacht und nicht ernst genommen, sodass sie sich nicht mehr in die Öffentlichkeit trauen. Einerseits fürchten sie sich vor Kritik, Schikanen, Hänseleien, andererseits schämen sie sich selbst dafür, dick zu sein. Aus diesen Gründen ziehen sie sich immer mehr aus dem sozialen Leben zurück und werden zunehmend unsicher. Da sie dem Schönheitsideal nicht entsprechen und daher auch Angst vor Kontakten mit dem anderen Geschlecht haben, bleiben viele Betroffene allein und füttern ihre Einsamkeit und ihre Sehnsucht. Dass der Körper schon satt ist, bemerken Betroffene gar nicht oder erst hinterher. Es folgen Versagens- und Schuldgefühle, Traurigkeit und Hilflosigkeit.

Was du noch wissen solltest:
Nicht jede*r „Dicke“ ist esssüchtig. Doch immerhin berichten ca. 20-30 % der übergewichtigen Personen, die in ärztlicher Behandlung sind, über unkontrollierte Heißhungeranfälle, die als „Binge-Eating-Disorder“ bezeichnet werden.

Aus: Lollipop - rund ums Essverhalten, Young+Direct und Infes 2007

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